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Siebzehnter Februar 1945

 

Das Donnern ist jetzt sehr laut. Es fühlt sich beinah wirklich an.

Fast noch wirklicher als mein Name, der an der Spitze der Liste steht.

Heute glaubte ich, die Decke würde einstürzen. Teile fielen auf uns herunter, sie sahen aus wie Eisschollen. Ein Stoß erschütterte das ganze Gebäude. Ich weiß nicht, was dort draußen geschieht. Aber ich frage mich, ob wir überleben werden.

Es ist klar, daß ich weiß, was geschieht. Es ist klar, daß es Bomben sind. Die Bomben der Befreier töten die Eingesperrten.

Darf man wagen, von Ironie zu sprechen?

Ja, man darf. Man muß es. Wie könnte man sonst atmen? Der letzte Atemzug muß durch einen Filter von Humor getan werden. Ich rufe mir jeden Jiddischwitz ins Bewußtsein, den ich je gehört habe. Es sind nicht so viele. Als religiöser Mensch war ich nicht sonderlich gelungen. Ich hatte zu großen Respekt vor der Seele.

Sie gehen dort auf dem Gang, ich sehe sie durch das Zellenfenster, sie wandern wie unselige Geister durch ein Dasein, das schon vorüber ist. Sie fragen sich, warum sie am Ufer des Todesflusses zurückgeblieben sind. Wie betrunkene Schiffe schwanken sie auf dem Todesfluß. Die Kompressen leuchten wie Laternen von den geleerten Schädeln.

Ja. Ich kann nicht an dieses Schicksal rühren, das mich erwartet. Es geht nicht. Es ist jenseits von allem.

Ich sollte keine Angst spüren. Das ist ein Lebenszeichen. Ich habe nicht das Recht, Lebenszeichen zu zeigen.

Ich habe nicht das Recht.

Der Regen. Der Nachmittag, der in Grau ertrank. Und sie werden fortgebracht, um erschossen zu werden.

Nein. Die andere Seite. Laß mich von der Zeit sprechen.

Nein. Nicht diesmal.

Klare Worte. Du stehst auf der Schwelle des Todes, Mensch. Sprich klare Worte.

Deine Frau und dein Sohn wurden fortgebracht, um erschossen zu werden. Du sahst, wie sie um die Ecke geführt wurden. Sie sollten zum Hinrichtungsplatz des Lagers und erschossen werden. Sie sollten getötet werden. Magda hatte in der Unterkunft Essen gestohlen für Franz, der verhungerte. Dafür wurde meine Frau getötet. Und unser Sohn auch, zur Abschreckung.

Und ich landete hier.

Aber in der Hölle war ich schon.

 

Achtzehnter Februar 1945

 

Man glaubt, den Bleistift nie wieder halten zu können. Man glaubt, das Schlimmste geschrieben zu haben, das man schreiben kann. Was hat es für einen Sinn, weiterzumachen? Und doch tut man es. Und doch kommt immer ein neuer Tag.

Die Bomben fallen schwerer und schwerer. Ich habe die Zeit erzittern sehen.

Ich werde die Zeit beschreiben. Ich glaube, daß ich es bereits getan habe. Die Zeit besteht aus zwei Dingen: einer Uhr und einem Turm. Der Turm ist da, damit die Uhr gehen soll. Die Uhr geht, um dem Turm zu huldigen.

Die Uhr ist unsere Seele und der Turm unser Körper.

Obgleich wir hier sind, um zu beweisen, daß die Uhr Materie ist. Daß die Uhr nur der Mechanismus ist, der die Zeiger vorwärts treibt. Die gleiche Bewegung in alle Ewigkeit.

Oder bis der Turm fällt.

Und ich habe ihn zittern sehen. Eine Bombe hätte ihn fast gefällt. Eine Bombe war im Begriff, die Zeit zu fällen.

Laß mich die Zeit beschreiben.

Die Zeit hat einen weißen Grund. Der weiße Grund ist vielleicht vierkantig. Dann kommt das Schwarze. Das Schwarze besteht aus drei Stücken. Das untere schwarze Stück ist sechskantig. Auf drei der sechs Flächen, jeder zweiten, sind zwei Fenster übereinander. Das untere ist etwas größer als das obere. Und unmittelbar über dem oberen beginnt das nächste Stück, das Zwischenstück. Es ist ebenso schwarz und hat die Form einer kleinen gewölbten Mütze. Da sitzt die Uhr. Zuletzt kommt die Spitze. Die Spitze ist auch schwarz und sieht scharf aus wie eine Nadelspitze.

Ich bin Jude. Ich habe nie begriffen, warum Kirchen so scharf und spitz aussehen müssen. Synagogen sehen nicht scharf und spitz aus. Ich habe immer gedacht, daß sie wie Brüste aussehen. Wie Mutterbrüste.

Warum beschreibe ich die Zeit so detailliert? Weil es sie bald nicht mehr geben wird. Weil die nächste Bombe sie fällen wird. Weil sie schon im schwachen Wind zittert.

Weil die Zeit im Begriff ist zu sterben.

 

Neunzehnter Februar 1945

 

Erwin ist tot. Er war eine freundliche Seele, Einer der drei Offiziere hat es mir erzählt. Der freundlichste von ihnen. Er ist weniger deutsch als ich und sehr blond. Und er sieht sehr traurig aus.

Er tötet mit Trauer in den Augen.

Die beiden anderen tun das nicht. Einer tötet aus Interesse. Er ist nicht grausam, nur kalt. Er betrachtet, macht Beobachtungen, führt Buch. Aber der dritte, der mit einem kleinen lila Muttermal am Hals, das die Form eines Rhombus hat, der ist grausam. Er will töten. Ich kenne diesen Blick von früher. Er will, daß man leidet. Dann soll man sterben. Danach ist er zufrieden.

Ich kenne ihre Namen nicht. Sie nennen keine Namen. Es sind drei anonyme Mörder. Aber sie sind einander nicht gleich. Nicht einmal die Mörder sind einander gleich.

Erwin starb vor Schmerzen.

Er lebt nicht mehr in mir. Ich spürte, wie er in mir starb, und da fühlte ich auch, wie ich selbst starb.

Morgen, wenn die Zeit noch existiert, werde ich erzählen, wann ich gestorben bin.

 

Zwanzigster Februar 1945

 

Ihre Stimme spricht jede Nacht zu mir. Es sind immer die gleichen Worte: Warum willst du auf den Tod warten? Denk wenigstens an Franz.

Ich glaubte, ich hätte an Franz gedacht. Das ist meine einzige Verteidigung. Er reichte mir bis zum Nabel. Wir konnten uns unterhalten. Ich fragte ihn: Willst du, daß wir fliehen, Franz? Wir müssen alles zurücklassen.Er sagte:Nein.Und ich hörte auf ihn.

Natürlich lüge ich. Es ist lächerlich zu lügen, wenn man mit einem Fuß im Grabe steht. Ich weiß nicht, warum ich es geschrieben habe. Warum habe ich es geschrieben, Gott?

Nein. Du antwortest nicht.

Franz gab die Antwort, die ich hören wollte. Ich stellte die Frage so, daß er nur Neinantworten konnte. Wie hätte er etwas anderes antworten können?

Ich war es, der bleiben wollte. Ich konnte Berlin nicht verlassen. Es war meine Stadt, mein Land, mein Leben.

Und so verleugnete ich sie.

Da bin ich gestorben.

Ich habe ja versprochen, es heute zu erzählen. Ich habe es mir selbst versprochen.

Sie führten Magda und Franz ab, um sie zu erschießen. Magda wurde ertappt, als sie Brot aus der Unterkunft der Soldaten stahl. Sie haben sie erschossen.

Und ich rührte keinen Finger. Dann hätten sie mich auch erschossen.

Ich verstehe nicht, was das für ein eigentümlicher Überlebensinstinkt war. Ich wußte ja schon damals, daß ich gestorben war. Warum wählte ich einen langgezogenen Leidenstod, statt versöhnt zusammen mit meiner Familie zu sterben?

Jetzt fällt die Zeit. Jetzt, vor meinen Augen. Während ich dies schreibe. Der schwarze Turm mit dem alten Präzisionsuhrwerk, das Mauerwerk, das Jahrhunderte hindurch gestanden hat – jetzt genau fällt es. Die Kirchenfenster klirren spröde durch das Dröhnen der Bomben. Umrahmt vom aschgrauen Weltuntergangsrauch der fallenden Stadt steigt eine farbenfrohe Wolke von Glassplittern auf.

Es hätte schön sein können.

 

 

 

 

Einundzwanzigster Februar 1945

 

Mein Name steht an erster Stelle auf der Liste. Die Zeit ist gefallen. Ich habe sie ja fallen sehen.

Der freundlichste der drei Offiziere war bei mir und hat es mir mitgeteilt. Ich sollte eine Stunde bekommen, um mich vorzubereiten.

Bald wird die kleine Kompresse an meiner Schläfe sitzen. Jemand wird durch ein Zellenfenster auf mich hinausblicken und denken, daß sie wie eine Laterne leuchtet.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bald wird der Schmerz mich mit einer Kraft erreichen, die ich mir nie auch nur im Traum hätte vorstellen können.

Das ist der Preis für meinen Verrat.

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